Augenzeugen
Ich lese uns den Anfang des ersten Johannesbriefes, die Verse 1-4: (Gute Nachricht Bibel)
1 Was von allem Anfang an da war, was wir gehört haben, was wir mit eigenen Augen gesehen haben, was wir angeschaut haben und betastet haben mit unseren Händen, nämlich das Wort, das Leben bringt – davon reden wir. 2 Denn das Leben ist offenbar geworden, und wir haben es gesehen; wir sind Zeugen dafür und verkünden euch das unvergängliche Leben, das beim Vater war und sich uns offenbart hat.
3 Was wir so gesehen und gehört haben, das verkünden wir euch, damit ihr in Gemeinschaft mit uns verbunden seid. Und die Gemeinschaft, die uns miteinander verbindet, ist zugleich Gemeinschaft mit dem Vater und mit Jesus Christus, seinem Sohn.
4 Das erfüllt uns mit großer Freude.[2] Und wir schreiben euch diesen Brief, damit unsere Freude vollkommen wird.
Liebe Gemeinde,
- So fängt man keinen Brief an.
Johannes verlässt die gute Form. Er stürzt mit seinem Anliegen ins Haus, ohne sich vorzustellen. Damals gehörte es sich, dass sich zunächst der Absender nannte, dann wurden die Briefempfänger würdig angesprochen. Meistens folgt ein eingehender Gruß. „Johannes, der Apostel, an die Gemeinden in der Provinz Asia, Friede sei mit euch.“ Das wäre das Mindeste gewesen.
Johannes platzt gleich los. So wichtig ist ihm, was er zu sagen hat. Er will an den Grund des Glaubens erinnern, und der ist keine Theorie, keine Idee, sondern eine Person, ein Leben hier auf der Erde, ein Mensch, dessen Freund und Jünger Johannes gewesen ist und dessen Zeuge er heute ist.
Johannes schreibt im Plural. Es waren viele, die Jesus erlebt haben und einige, die zu seinem engsten Jüngerkreis gehörten. Ohne sich vorzustellen betritt Johannes den Raum und sagt: „Wir müssen euch sagen, was wir erlebt haben, gesehen mit eigenen Augen, angesehen, gehört, ja wir haben es auch angefasst, berührt. Und es hat uns berührt, erfasst und ergriffen: Es ist das Leben selbst, das ewige Leben von Gott. Dieses Leben ist sichtbar geworden. Wir haben es gesehen und gehört und das müssen wir weitererzählen.“
Heute halten viele halten den christlichen Glauben für eine Theorie oder eine Philosophie. Andere meinen, der christliche Glaube sei eine Art Wertesystem. Wer sich dann danach richtet, der sei ein Christ. Natürlich gibt es die Theologie, eine Lehre vom christlichen Glauben, und es gibt christliche Werte. Aber das ist nicht die Sache selbst! Man kann viel über den Glauben lernen, aber das ist noch nicht der Glaube selbst.
Es gibt auch Theorien über Fußball. Oder über Autos. Und man kann die Verkehrsregeln lernen. Lernen, wie ein Auto funktioniert und wie man sich damit auf der Straße zu verhalten hat. Aber das ist alles Theorie. Ich fahre lieber ein Auto ohne Theorie als eine Theorie ohne Auto. Die Theorie ist nicht unwichtig. Aber sie bringt nichts, wenn du kein Auto hast, wenn nicht fahren übst, wenn du dich nicht auf die Straße wagst.
Mit dem Glauben ist es ähnlich: Die Theorie bringt dir gar nichts. Theoretisch glauben ist wie theoretisch Lieben oder theoretisch Fußball spielen oder sich theoretisch freuen.
Ich weiß nicht, von wem das Zitat kommt. Aber ich habe es irgendwo gelesen: „Wenn da ein Haus wäre mit zwei Eingängen; an der rechten Tür stände “Eingang zum Reich Gottes”, und an der linken Tür stände: “Vortrag über das Reich Gottes”: Die Deutschen würden alle zur linken Tür hineingehen.“ Lieber Vorträge über Gottes Reich hören, als sich selber seiner Herrschaft auszusetzen. Lieber sitzen und denken als etwas wirklich an mich heranlassen. Johannes sagt: Das Leben ist erschienen! Das feiern wir Weihnachten. Und mit diesem Leben können wir Gemeinschaft haben! Das ist keine Theorie.
- Gott wird greifbar in Jesus!
Gott wird für unsere menschlichen Sinne greifbar. Der Unsichtbare wird sichtbar. Der Unnahbare lässt sich anfassen. Gott lässt sich hören. Zunächst schreibt Johannes im Neutrum, als ginge es um eine Sache. Nicht wer, sondern was von Anfang an war, nämlich das Wort des Lebens, das wahre Leben selbst, das ist erschienen!
Sein Evangelium, das Johannesevangelium, fängt ganz ähnlich an: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. (…) In ihm war das Leben. (…) Und das Wort ward Fleisch und wir sahen seine Herrlichkeit!“ (Joh 1, 1.4.14) Dieselben Begriffe. Hier aber, in seinem Brief, betont Johannes ganz dringlich offensichtlich seine Augenzeugenschaft. Johannes will jeden Zweifel an der Inkarnation, an der Fleischwerdung Gottes, ausräumen. Gott ist wirklich Mensch geworden! Das hat sich keiner ausgedacht, das ist keine religiöse Überzeugung. Das ist Fakt. Das haben wir gesehen, gehört, angefasst, gerochen.
Karfreitag und Ostern waren gerade 50 Jahre her. Und einigen Christen in den Gemeinden der heutigen Türkei war es schon unwichtig, ob Jesus wirklich Gott war, ob Gott wirklich in Bethlehem Mensch geworden ist. Von dem weit verbreiteten griechischen Denken konnte man sich einen solchen Gott nicht vorstellen. Zugrunde liegt eine große Ehrfurcht, Aussagen über Gott zu machen. Die alten römischen oder griechischen Götter spielten in dieser neuen Philosophie keine Rolle mehr. Wer aufgeklärt war, glaubte nur noch an den einen Gott.
Und über diesen Gott kann man nur sagen, was er nicht ist. Und dass wisse man ganz sicher. Gott sei unsichtbar, unhörbar, unveränderlich. Gott sei ohne Leiden, ohne Gefühle, ohne Zeit und ohne Materie. Er greift nicht in diese Welt ein. Er ist unnahbar. Er sei ohne jede Leidenschaft. Sonst wäre es nicht Gott. Ein Gott, der sich sichtbar macht, hörbar, berührbar, ein Gott, der leidet, sich verändert und sich selbst erniedrigt, das kann schon per Definition kein Gott sein.
Diese verbreitete Anschauung von Gott fand sich auch unter Christen. Das war einfach logisch. Das wurde vorausgesetzt. Es verbreitete sich die so genannte Lehre des Doketismus. Gott ist nur scheinbar Menschen geworden und nur scheinbar am Kreuz gestorben.
Das ist heute nicht anders. Auch heute gibt es allgemeine oder auch ganz persönliche Vorstellungen, wie Gott sein müsste. Menschen haben Bilder von Gott, Urannahmen, mit denen sie sich zum Beispiel dem Zeugnis der Bibel zuwenden: „Wenn es einen Gott gibt, dann nur so, so wie ich ihn mir denken kann. Sonst gibt es keinen Gott. Sollte er anders sein, dann kann ich ihn nicht mehr Gott nennen.“
Johannes sieht den ganzen Glauben gefährdet, wenn jetzt schon die ersten Christen sagen „Am Glauben gibt es viel Gutes, aber ob Gott wirklich Mensch geworden ist? Das weiß ich nicht.“ Johannes argumentiert nicht. Er erzählt. Durch das, was er und viele andere erlebt haben, weiß er: Gott ist nicht unnahbar, er ist uns nahe gekommen. Gott ist nicht leidenschaftslos, ohne Liebe, ohne Beziehung. Umgekehrt: Genau das macht ihn aus. „Wir folgen keiner Theorie. Wir folgen dem, den wir gehört und erlebt haben. Wir haben es uns nicht ausgedacht. Wir haben uns Gott nicht so überlegt, sondern ER hat sich uns so gezeigt. Er hat gesprochen. ER hat das Wort genommen.“
1963 dichtet Otto Wiemer:
„Wenn Gott Mensch wäre,
wohnte er im nördlichen Stadtteil,
Salzgasse vier, beim Schlächter,
in Untermiete!“
So real menschlich ist Gott geworden. Sein Sohn, „das Wort des Lebens“, wie Johannes ihn hier nennt, Jesus, hatte eine ganz bestimmte Physiognomie, ein einmaliges Gesicht, mit der ihm eigenen Nase und dem ihm eigenen Mund, einen ganz bestimmten Körperbau, seine Hände hatten eine ganz bestimmte Form. Gott hat in Jesus seinen Fingerabdruck gezeigt. Ein echter Mensch wurde Weihnachten geboren!
- Dafür stehen die Apostel!
„Was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir betastet haben mit unseren Händen (…) das verkündigen wir euch!“ Einem Augenzeugen vertraut man vielleicht nicht. Aber es sind viele. Die Apostel haben einen nie wiederholbaren Vorsprung allen Christen nach ihnen gegenüber. Schon der alte Johannes schreibt in seinem Brief von einem Wir und einem Ihr. Das ist ein klares Gegenüber. Für das Urzeugnis, die Grundlage unseres Glaubens, stehen sie, die Apostel. Sie sind von Jesus selbst berufen. Sie sollten ihn begleiten, ihm zuhören, sein Leben ansehen, ihn beobachten, ihre Fragen stellen, um ihn zu bezeugen und ihn verkündigen zu können.
Unser Wissen über Christus beruht nicht auf irgendwelchen Geheimnissen. Was wir glauben beruht auf dem, was Menschen, Augenzeugen, Wegbegleiter, mit allen ihren Sinnen wahrgenommen haben. Wir müssen nicht rätseln, wie Jesus mit Sündern umgeht, wie ernst er sich und seine Botschaft genommen hat. Wir müssen nicht raten, ob Jesus fröhlich mit anderen feiern kann oder wie er sich zu Menschen verhält, die ausgegrenzt werden. Das können wir wissen!
Das Leben ist erschienen und dieses Leben ist ein Mann geworden. Der hat geredet und wir haben das gehört. Und er hat deutlich geredet. Gott hat nicht ein bisschen gemurmelt durch seinen Sohn. Er hat klar geredet, und wir haben es gehört. „Seht mich an!“ hätte Johannes sagen können. „Glaubt ihr, dass diese Augen und diese Ohren und diese Hände sich irren?“
Der Theologe Karl Barth hat gefordert, dass man die Berichte der Bibel lesen müsse, wie andere Berichte auch. Wie ein ganz normales Buch. Man solle den Verfassern der Bibel nur das gleiche Vertrauen entgegenbringen, wie anderen Verfassern. Nämlich, dass sie bei Verstand sind, dass sie ihre Sinne gebrauchen, dass sie Wahn und Wirklichkeit unterscheiden können, dass sie die Wahrheit mit ihren Worten sagen, nicht lügen, und es sich nicht aus den Fingern saugen. Gott hat sich in Jesus greifbar gemacht. Dafür stehen die Apostel. Und zuletzt:
- Christus will Gemeinschaft mit uns!
„Was wir gesehen und gehört haben, das verkündigen wir euch, damit ihr Gemeinschaft habt, und unsere Gemeinschaft ist mit dem Vater und dem Sohn Jesus Christus!“
Koinonia ist das griechische Wort für Gemeinschaft. Koinonia heißt, gemeinsame an etwas Anteil haben. Etwas zusammen teilen und zusammen erleben. Das ist eine Gemeinschaft, die von dem Einen lebt, von dem Einen satt wird, sich an dem Einen freut. Koinonia hat immer eine Mitte, einen Ursprung, der nicht in dem Menschen selbst liegt. Menschen werden durch etwas miteinander verbunden, das außerhalb ihrer selbst liegt.
Christliche Gemeinschaft lebt nicht davon, dass wir die gleiche Kleidung tragen oder den gleichen Geschmack haben. Christen müssen sich auch nicht sympathisch sein und sich mögen. Das kann nicht schaden, aber das ist nicht der Grund ihrer Gemeinschaft. – Der Grund ist Christus. ER ruft und wer zu ihm kommt, der gehört in die Gemeinschaft mit ihm.
Was vor 2000 Jahren passiert ist, das ist die Grundlage. Dafür stehen die Apostel. Weil Gott wirklich Mensch geworden ist, darum ist auch in unsre Zeit gekommen. Einmalig. In eine Zeit, in der sich das Evangelium im ganzen Mittelmeerraum aber auch bis nach Asien und Afrika schnell ausbreiten konnte.
Jesus Christus aber will heute Gemeinschaft mit uns. Jesus ist in Bethlehem geboren. Aber der Auferstandene will heute in mir und dir geboren werden. Die historischen Fakten sind die Voraussetzung. Sie für wahr zu halten aber, ist noch nicht der Glaube. Jesus will, dass wir ihm heute vertrauen. Dass er unsere Mitte und unsere Freude ist. Dass er unser Herr heute ist.
Berühmt ist der Satz von dem Dichter Angelus Silesius aus dem 17. Jhdt.: „Wär´ Christus tausendmal zu Bethlehem geboren, doch nicht in dir: du bliebst noch ewiglich verloren.“ Würden wir tausend Mal Weihnachten feiern und könnten wir 100%tig sicher sein, dass Jesus wirklich in Bethlehem geboren wurde und er Gottes Sohn ist, dann wäre uns immer noch nichts für unser Leben geholfen!
Mit Jesus Gemeinschaft haben, ist noch etwas anderes als zu sagen: „Ja, das ist alles genau so geschehen!“ Dann glauben wir den Aposteln. Immerhin. Dann haben wir Vertrauen in das, was sie aufgeschrieben haben, das ist viel. Man könnte sagen, dann glauben wir an die Bibel, an die Berichte der Augenzeugen.
Mit Jesus Gemeinschaft haben aber bedeutet, ein Teil von ihm zu werden. In Bethlehem wurde auch mein Leben geboren. Als Jesus sich über die Sünder erbarmte, hat er sich auch über mich erbarmt. Wenn Jesus ruft „Kommt her ihr Mühseligen und Beladenen, ich will euch erquicken!“ Dann laufe ich auch hin mit meinem Leben und werde getröstet. Als er die Jünger aussandte, seine Zeugen zu sein, da bin ich auch losgegangen. Ich unterstelle mich ihm. Ich mache ihn in der Welt bekannt. Als Jesus am Kreuz gestorben ist, da ist auch mein altes Leben mit ihm gestorben. Als er auferweckt wurde, da war auch mein Grab leer und mein Leben hat neu begonnen.
Johannes hält sich nicht an die Formen. Ihm läuft der Mund über. Er würde platzen, wenn er es nicht erzählen würde: Unser Glaube hat einen festen Grund. Gott hat sich in Jesus Christus sichtbar gemacht, greifbar und darum auch angreifbar. Man konnte ihm wehtun.
Er ist weder leidenschaftslos noch ohne Leiden. Dafür stehen die Apostel. Und wir erzählen es in aller Welt, damit wir und viele andere mit Christus Gemeinschaft haben. Dann wird unsere Freude vollkommen werden.
Amen.
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