Kein Geist der Furcht

Liebe Melanie, Markus und Martin,
das Thema der Predigt ist ernst und es ist voller Hoffnung.

Ihr drei Täuflinge und ihr anderen Schwestern und Brüder,
kennt ihr das bei euch, eine Angst, die eure Leben lähmt? Gedanken, die ihr nicht abstellen könnt, Befürchtungen, konkrete Belastungen, die euch allen Mut nehmen?

Timotheus  ist in einer solchen Situation. Timotheus ist ein junger Türke. Noch keine 30 Jahre alt. Aber mit hoher Verantwortung. Paulus hat ihn in Ephesus zurückgelassen. Er soll die Gemeinde dort weiter aufbauen. Im Jahr 52 hatte Paulus die Gemeinde gegründet. Auf seiner ersten Missionsreise.

Ephesus liegt an der Westküste der Türkei, gar nicht  weit weg  von den griechischen Inseln, auf denen heute tausende Flüchtlinge ein schreckliches Elend erleben. Ephesus war eine der größten Städte damals. 200.000 Einwohner vermutlich. Dort stand der berühmte Tempel der Artemis, eines der Sieben Weltwunder. Ephesus war eine bedeutende Hafenstadt, multikulturell und multireligiös.

Die Gemeinde der Christen war gewachsen, aber sie war alles andere als fest oder beständig oder klar ausgerichtet. Es gab so viele Fragen. Und es wurden immer mehr. Theologische und praktische Fragen, Angriffe von außen und Konflikte in der Gemeinde. Timotheus ist das alles über den Kopf gewachsen.

Paulus, der Gründer der Gemeinde und der Mentor, der väterliche Freund von Timotheus, Paulus, war derweil im Gefängnis in Rom. Mit Aussicht auf sein Todesurteil. Berufsrisiko für einen Missionar damals. Und dann kommt dieser Brief von ihm aus Rom und Timotheus liest:

Gott hat uns nicht einen Geist der Ängstlichkeit gegeben, sondern den Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit. Bekenne dich daher ohne Scheu zu unserem Herrn, und schäme dich auch nicht, zu mir zu stehen, nur weil ich ein Gefangener bin – ich bin es ja um seinetwillen! Sei vielmehr auch du bereit, für das Evangelium zu leiden. Gott wird dir die nötige Kraft geben.
Er ist es ja auch, der uns gerettet und dazu berufen hat, zu seinem heiligen Volk zu gehören. Und das hat er nicht etwa deshalb getan, weil wir es durch entsprechende Leistungen verdient hätten, sondern aufgrund seiner eigenen freien Entscheidung. Schon vor aller Zeit war es sein Plan gewesen, uns durch Jesus Christus seine Gnade zu schenken, und das ist jetzt, wo Jesus Christus in dieser Welt erschienen ist, Wirklichkeit geworden. Er, unser Retter, hat den Tod entmachtet und hat uns das Leben gebracht, das unvergänglich ist. So sagt es das Evangelium. 
(2. Tim 1, 7-10; Neue Genfer Übersetzung)

Timotheus hat einen Geist der Furcht. Seine Ängste haben mindestens partiell die Herrschaft über ihn gewonnen. Es geht nicht um einen kleinen Schrecken, um Angst vor dem Zahnarzt oder davor im Wasser untergetaucht zu werden. Es geht nicht um etwas, das schnell wieder vorbei ist. Timotheus sitzt fest in seinen trüben Gedanken. Er hat keine rechte Hoffnung mehr. Keine Perspektive. Keine Kraft mehr. Er hält den Druck nicht mehr aus, der andere ihm oder er sich selbst macht.

Was könnte meine oder deine Angst sein? Wo könnte mich oder dich ein Geist der Furcht packen? Ängste, die uns beeinflussen, uns unfrei machen, unsere Schritte lähmen? Die Angst vor einer Diagnose oder einer Prüfung, die immer wieder in großen Wellen über uns kommt. Die Angst einen Menschen zu verlieren oder die Arbeit oder nicht mehr arbeiten zu können. Die Angst vor dem Allerletzen in diesem Leben, vor dem Tod. Die Angst nimmt zu vor der Unberechenbarkeit und dem Chaos in der Welt. Klimaerwärmung. Vor Diktatoren in Europa. Vor Covid 19, dem vielleicht bald die nächsten Viren folgen.

Vielleicht ist es auch das ganze normale Leben, das bei dir immer wieder einmal das  innere Licht ausmacht. Die Familie, der Beruf, Aufgaben und Anforderungen in der Gemeinde. Angst, etwas Wichtiges falsch zu entscheiden. Angst, seiner Aufgabe nicht gerecht zu werden. Das kann einem alles zu viel werden. Dann sitzen wir mit Timotheus im selben Boot.

„Angst essen Seele auf“ heißt ein Kinofilm. Aber wir haben dieses Leben nicht ohne Ängste. Angst kann man nicht einfach wegschieben. Ausschalten. Umdrehen und Weiterschlafen. Aufstehen und Weitermachen. Wir sind nicht die Herrinnen über unsere Ängste. Es geht darum, unserer Angst ihre Grenzen zu zeigen. Ihr den Anspruch auf unser Leben strittig zu machen. Sich trotz oder mit der Angst  frei  zu bewegen.

„Du brauchst keine Angst haben!“?  So ein Satz reicht nicht, um den Geist der Furcht in seine Grenzen zu weisen. Das weiß auch Paulus im Gefängnis. Darum erinnert er an die Grundfesten des Glaubens. Wenn ich in meiner Angst unterzugehen drohe, dann kann das helfen: Erinnert zu werden an den, der mich trägt und hält, an das Fundament, das da ist und nicht verloren geht. Von Gnade ist da die Rede, dass wir gerettet sind, und  vom Geist Gottes, den er uns gegeben hat.

„Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Der Heilige Geist ist ein Mutmachgeist. Und er stützt mich von Innen! Er ist ein Teil von mir. Eine stärkere Stimme, eine größere Kraft in mir. Er hebt den Kopf, er stärkt die Glieder.

Gott hat uns einen Geist der Kraft gegeben. Dynamis steht da im Griechischen. Mit dieser Kraft sind starke Bewegungen möglich. Du kannst aufstehen. Du kannst weitergehen. Du bist nicht allein. Du kannst seiner Kraft vertrauen. Du kannst Neues in Angriff nehmen. Du kannst dich deinen Aufgaben stellen. Du musst nicht dir selber vertrauen, oder auf andere Menschen setzen, du kannst ihm vertrauen.

Gott hat uns einen Geist der Liebe gegeben. Manchmal ist es ja auch die Liebe, die uns ausgeht. Timotheus wird konkrete Menschen vor Augen gehabt haben,  die ihn kritisierten, denen er es nicht recht machen konnte. Auch Menschen, für die man verantwortlich ist, die man liebt, können einen an die Grenzen bringen. Vielleicht der eigene Vater oder die Mutter, die man pflegt, oder die Schwester oder der Bruder in der Gemeinde, die oder den man manchmal zum Mond schießen könnte. Aber wir haben die Kraft der Liebe in uns. Gottes Liebe ist ausgegossen in unsere Herzen. (vgl. Römer 5,5)

Der Geist der Liebe ist auch eine Korrektur oder eine Ergänzung, eine notwenige Schwester zum Geist der Kraft. Mit Kraft ohne Liebe kann man auch Schaden anrichten. Recht haben, aber den anderen verletzen. Den anderen aufgeben. Andere verurteilen. In einer Predigt las ich sehr prägnante Sätze dazu:

„Die Liebe macht die Kraft menschenfreundlich. Kraft ohne Liebe läuft Gefahr, fanatisch zu werden.  Ohne Liebe wird die Kraft blind und verliert das Menschliche aus den Augen. Ohne den Geist der Liebe ist ein Geist der Kraft nicht mehr Gottes Geist.“ (Dr. Jürgen Kaiser, s.u.)

Was dieser Geist wirkt, hat Paulus in 1. Korinther 13 geschrieben:

„Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ (1.Kor 13,4-7)

Gott hat uns einen Geist der Kraft gegeben und der Liebe und der Besonnenheit. Besonnenheit galt in der hellenistischen Kultur als hohe Tugend. Es ist die „Kunst, das rechte Maß zu finden“. Wer das kann, der ist ein Meister des Lebens. Das rechte Maß finden zwischen  Geiz und Verschwendung, zwischen Arbeit und Ruhe, zwischen Genuss und Abhängigkeit.

Wer besonnen ist, der kann, wenn er angegriffen wird, zuerst einmal Luft holen, bei Gott durchatmen, seine Reaktion abwägen, ehrlich bleiben, aber nicht verletzt reagieren. Wer besonnen ist, wird nicht bestimmt von seinen Begierden, seinen Sehnsüchten oder auch seine Lebenswunden. Er kann sie kontrollieren. Er kann damit gut umgehen.

Das gesunde Maß ist nicht immer das Mittelmaß. Eine feste Position auch gegen andere kann angemessen sein. Auch eine deutliche, vielleicht sogar scharfe Reaktion kann angemessen sein, wenn es Menschen oder einer Sache dient.

Besonnenheit hat es mit Weisheit zu tun und mit Selbstbeherrschung: Zwei weitere klassische griechische Tugenden übrigens. Besonnenheit hat es auch mit Verzicht zu tun, mit Askese vielleicht. Etwas ganz zu lassen, was keinem dient oder mich bindet. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit!“

„Ohne Leiden geht es nicht, Timotheus. Leide mit mir für das Evangelium!“ schreibt Paulus. Vielleicht ist das auch etwas, was man Täuflingen mit auf den Weg geben muss. Es gibt kein Lieben ohne Leiden. Du wirst auch Schweres erleben, wenn Gottes Liebe dich ansteckt und du Jesus nachfolgst.

Manche Christen meinen, der Heilige Geist würde von allen Leiden schützen oder befreien. Er heilt alle Wunden. Gott ist alles möglich, sagen sie. Er schenkt nur Erfolg und Freude im Leben. Das kann Gottes Geist auch!  Aber in der Regel, glaube ich, erwächst uns aus diesem Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit in uns nicht Leidensfreiheit sondern Leidensfähigkeit. Ein fester Stand in dieser Welt in der es Leiden gibt. Eine Freude und Dankbarkeit die alles trägt. Ein starker Umgang mit Ängsten, weil Gottes Geist uns Kraft und Vertrauen schenkt.

Melanie, Markus und Martin,

was ich jetzt sage, das sage ich mir,
und das sage ich euch,
und das sage ich jedem, der es hören will:

Gott hat euch keinen Geist der Ängstlichkeit gegeben.
Gott hat uns einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit gegeben.
Darum bekenne deinen Glauben und den Herrn in dieser Welt, ohne Scheu.
Schäme dich nicht, dass du Gottes Gnade brauchst und von Gottes Liebe lebst.
Sei auch du bereit, für das Evangelium zu leiden. Gott wird dir die nötige Kraft geben.
Er ist es ja auch, der uns gerettet hat und der uns dazu berufen hat, zu seinem heiligen Volk zu gehören. Nicht weil wir etwas Besonderes geleistet hätten, sondern nur, weil er es wollte, dass wir zu seinen Menschen gehören.
Jesus hat den Tod entmachtet. Er hat auch deinen Tod entmachtet.
Und er hat dir das Leben gebracht, das unvergänglich ist.
Das ist sein Evangelium für dich.

Amen.

 

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