Manchmal sehen Blinde mehr

Liebe Gemeinde,

was denkt ihr, wenn ihr einen Blinden seht? Dir kommt eine Frau entgegen. Die Augen geschlossen. Den Kopf etwas schräg. Die Ohren weit offen. Vor sich schwingt sie einen langen Stock hin und her. Sie ertastet ihren Weg. Sie braucht den Stock um nicht vom Weg abzukommen. Was denkst du, wenn du sie siehst? – Oder nehmen wir einen Rollstuhlfahrer. Junger Mann. Vielleicht 30 Jahre alt. Lange Haare, Lederjacke, dicke Kette, fettes Armband. Man könnte sich ihn eher auf einem Motorrad vorstellen, als in einem Rollstuhl, denke ich. Was denkst du, wenn du ihn siehst? – Jesus und seine Jünger  sehen einmal einen Blinden am Straßenrand. Der Mann ist von Geburt an blind. Für die Jünger ist ganz klar, was man sich fragen muss. Ich lese Johannes 9, 1-7:

1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. 2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? 3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes an ihm offenbar werden. 4Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. 5Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. 6Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden. 7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah –

das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.

„Wer hat gesündigt? Er oder seine Eltern?“ Für die Jünger war es klar. Das ist die Frage, die dieser Mann mit seinem Schicksal aufwirft. Die Ansicht, dass Krankheit und Sünde zusammen hängen, war weit verbreitet. Aber wie sieht es im Einzelfall aus? Bei diesem Blinden zum Beispiel. Er kann doch nicht schon vor seiner Geburt gesündigt haben, oder? Waren es seine Eltern? Oder seine Großeltern? Gab es da irgendetwas Dunkles in seiner Familie, dass einer so leiden muss? Was sagt Jesus dazu?

Wer hat Schuld? Wie ist es dazu gekommen? Wie konnte das passieren? Auch  heute noch  scheint das oft die interessanteste Frage zu sein? Bestimmt ist dieser Mann im Rollstuhl zu schnell Motorrad gefahren. Er sieht schon so aus, als würde wer sich nicht immer an Regeln halten!  Oder es hat ihn jemand umgefahren? Hatte er selbst gar keine Schuld?

Die Frage nach der Schuld stellt sich heute auch noch. Gab es den Virus Covid 19 zuerst in China? Sind dort Fehler gemacht worden? Sind die Chinesen Schuld?

Menschen, die plötzlich krank werden, Krebspatienten, oder Menschen,  die einen vertrauten Menschen verlieren,  fragen manchmal: „Womit habe ich das verdient? Was habe ich verbrochen, dass ich so leiden muss? Bin ich schlechter als andere?“

Noch schlimmer: Ein Ehepaar bekommt ein  Kind,  das sein Leben lang nur mit schweren Einschränkungen und täglicher Betreuung leben wird. Und das Paar fragt sich, ob das jetzt eine Strafe Gottes ist, weil sie empfinden, dass sie früher einmal als Paar gesündigt haben.

Hast du eine Partnerin oder einen Partner? Wollt ihr Kinder? Was machst du, wenn dein Kind schwer behindert ist? Was denkst du dann? Welche Fragen stellst du dir? Wie gehst du als Christ damit um?

„Wer hat gesündigt? Der Blinde oder seine Eltern?“ Jesus interessiert die Frage nicht. Er entzieht ihr den Boden. „Weder er noch seine Eltern haben gesündigt!“ – Stimmt ja gar nicht. Kann gar nicht stimmen. Alle Menschen sind Sünder. Bestimmt war dieser Blinde und waren seine Eltern auch nicht immer geduldig, barmherzig, gerecht. Stimmt. Aber es gibt keinen Zusammenhang. Es gibt keine Sünde von irgendjemandem, die dazu geführt hat, dass dieser Mann blind ist. Krankheit ist keine Strafe.

Ich will es gar nicht ausschließen, dass Gott auch einmal Krankheiten benutzt, um Menschen wach zu rütteln, um ihnen die Augen zu öffnen über sich selbst, dass sie sehend werden. Ich kann es denken, dass Gott auch Krankheiten oder Unfälle nutzen kann, um Menschen von falschen Wegen zurück zu holen. Er kann bewahren oder erziehen durch Schweres im Leben. Dennoch ist es falsch, im Leben eines Menschen einen Zusammenhang von seiner persönlichen Sünde und Krankheit zu suchen. Es gibt kerngesunde Zuhälter und Diktatoren und es gibt schwer kranke Menschen, die sehr viel Gutes im Leben getan haben. Es bringt nichts, zu fragen, wer Schuld hat, wie es zu einer Krankheit gekommen ist.

Natürlich gibt es auch Zusammenhänge zwischen unserer Lebensart und unserer Gesundheit. Wer viel Alkohol trinkt, macht seine Leber kaputt. Wer viel raucht, schadet seiner Lunge. Wer immer mur Stress hat, nie zur Ruhe kommt, der ist vielleicht ein Kandidat für Herzinfarkt oder Burnout. Und doch denke ich: Nach hinten zu gucken, Ursachen zu erforschen,  das hat nur so lange sein Recht und seinen Sinn, wie es dazu hilft, nach vorne zu sehen, nach vorne zu leben.

Jesus wehrt hier in dem Gespräch mit den Jüngern nur die Schuldfrage ab. Das hat hier nicht zu suchen. Das hilft keinem, zu fragen oder zu wissen, wer Schuld hat. Aber ich meine, dass Jesus insgesamt eine ganz andere Haltung hat, als seine Jünger sie haben. Jesus sieht den Menschen und seine Situation jetzt. Jesus fragt, wie diese Situation zur Ehre Gottes dienen kann. Jesus geht nicht weiter und macht den Blinden zu einem Gesprächsobjekt, Jesu hilft dem Mann. Sein Leid soll ihm zum Heil dienen.

„Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern,“ sagt Jesus, „sondern die Werke Gottes sollen an ihm sichtbar werden.“ Was Jesus hier sagt, gibt eine ganz neue Sicht auf unser Leiden, auf das, was unser Leben schwer macht. Wer mich besser kennt weiß, dass ich nicht wie ein Blinder von der Farbe rede. Ich habe auch etwas zu tragen in meinem Leben, wie andere auch. Aber was bedeutet das, wenn ich diese Haltung Jesu übernehme: Ich bleibe nicht dabei, zu fragen, wie es gekommen ist. Ich frage, wie Gott in dieser Situation geehrt werden kann.

Stell dir vor, du hast oder bekommst ein Kind mit schwersten Behinderungen. Manche brauchen es sich nicht vorstellen; sie haben ein krankes Kind, das sie lieben. Stell di vor, du würdest dein dadurch verändertes Leben annehmen und Jesus fragen: „Wie kann diese Situation dazu dienen, dass du geehrt wirst, dass Menschen Gottes Werke sehen?“

Stell dir vor, du hast Depressionen. Oder Panikattacken. Schlafstörungen. Emotionale Schwankungen, dass du an manchen Tagen nicht arbeiten kannst und nur noch im Bett liegst. Manche brauchen sich das nicht vorstellen. Sie haben Depressionen oder Panikattacken oder können nachts nicht schlafen. Das soll nicht  billig sein. Das kannst auch nur du selbst für dich entscheiden und dich aus freien Stücken selber fragen: Wie kann meine Lebenssituation dazu dienen, Gott darin die Ehre zu geben, Gottes Werke groß zu machen?

Vielleicht bist du einsam. Niemand sage, dass das leicht ist. Vielleicht sitzt du im Rollstuhl. Ich weiß nicht, was deine Nacht ist, wo es bei dir am Dunkelsten ist. Für vieles braucht man auch eine Zeit der Trauer, völlig klar. Bei manchem wird die Trauer nie aufhören, weil du das nie zurückbekommst, worum du trauerst. Aber was wäre, wenn du dahin kommst, zu fragen: „Wie kann Gott jetzt in meinem Leben geehrt werden?“ Ich kann es nicht ändern, aber ich will meinen Blick ändern: Ich will auf Jesus sehen. Vielleicht ändert sich auch doch noch etwas an deiner Situation, weil du noch in Behandlung bist, in Therapie bist. Aber was wäre, wenn du jetzt schon fragst: Wie kann ich Gott heute in meinem Leben die Ehre geben?

3 Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. 4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.

In dem Predigttext heute geht es um eine Blindenheilung. Vordergründig. Jesus geht es um mehr. Johannes, der diese Geschichte aufgeschrieben hat, ihm geht es um mehr. Jesus hat so viele Kranke geheilt. Johannes will nicht einfach noch eine Heilung mehr erzählen. Hier wird ein Zeichen gesetzt. Hier soll etwas gezeigt werden. Hier haben die Jünger etwas Grundsätzliches begriffen was Sünde und Krankheit angeht, und sie sind von Jesus beauftragt worden.

„Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist.“ Ich denke, dass Jesus zunächst einmal an seine Lebensspanne hier auf der Erde gedacht hat. Solange er auf der Erde ist, ist er das Licht der Welt  und bringt Licht in das Dunkel von Menschen. Aber ich sehe auch einen Auftrag von Jesus darin an seine Jünger und an seine Nachfolger bis heute. „Wir müssen die Werke tun, die Gott durch uns tun will. Wir müssen in seinem Namen handeln. Von ihm gesendet in seiner Kraft. Paulus formuliert es einmal so: Wir sollen in den Werken wandeln, die Gott schon für uns vorbereitet hat. (Epheser 2,10)

Wir diskutieren nicht nur über das Leid in der Welt, über Hunger und Kriege,  über den Arbeitskollegen, der ein Trinker ist, über die Kollegin, die von ihrem Mann verlassen wurde. Wir beten auch nicht nur für andere, wir fragen, wie wir Gottes Werke für sie in dieser Situation tun können. Oder wie verstehen sie den Satz Jesu? Warum sagt Jesus das? „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist!“

Manche denken vielleicht, und da haben sie Recht: „Gott ist allmächtig.“ Richtig. „Gott kann doch auch ohne uns alles tun, was er will!“ Vielleicht ist das auch richtig. Weiß ich nicht. Er tut vieles nicht ohne uns. „Es kommt doch sowieso alles, wie es kommen soll.“ Nein. Das stimmt nicht. Dagegen spricht das gesamte biblische Zeugnis von Gott. Das ist Fatalismus, kein Vater-Vertrauen. Fatalismus ist der Glaube an irgendein völlig unbeeinflussbares Schicksal. Das ist nicht der Glaube an einen Gott, der uns sieht. Das ist nicht der Glaube an einen Himmel in dem ein himmlischer Vater wohnt:

Erstens: Wir können und sollen beten. Wir nehmen Teil an Gottes Herrschaft durch unser Beten.  Wir beten im Namen Jesu. Wir bitten, dass sein Wille geschieht. Zweitens: Wir können und sollen handeln. Gottes Werke tun. Gottes Schöpfung bebauen und bewahren. Uns erbarmen und kümmern um Witwen, Waisen, Arme, Fremde im Land, wie es schon das Alte Testament fordert. Die Lasten von Schwestern und Brüder mit tragen. Nicht nur theoretisch. Oder wie Jesus es in einer seiner Endzeitreden fordert: Wir sollen Hungrigen zu Essen geben, Nackte kleiden, Einsame und Kranke und Gefangene besuchen.

Was sind die richtigen Fragen? Was sollen wir denken, wenn wir einen Menschen sehen oder kennen, der schwer krank ist, die einen schlimmen Unfall hatte, den schweres Unglück überfallen hat. Was könnten unsere Fragen sein, wenn jemand seelisch nicht mehr auf die Beine kommt? „Wie ist es denn dazu gekommen?“ Das wäre typisch und es würde keinem helfen. Unsere Frage sollte sein: „Wie kann ich dazu beitragen, dass Gottes Werke in dieser für die andere oder die anderen so schweren Zeit sichtbar werden?“ „Wir müssen die Werke dessen tun, der mich gesandt hat, solange noch Tag ist!“

Dann macht Jesus einen Brei aus Staub und Spucke  und  legt ihn auf die Augen des Blinden. Tatsächlich wurde dem Speichel eine heilende Kraft zugesprochen. Es ist dem Blinden nicht völlig fremd, was Jesus tut. Die Erde ist vielleicht ein Hinweis darauf, dass der Mensch nach dem Schöpfungsbericht aus Erde gemacht ist. Vielleicht sollte der Speichel durch den Brei aber einfach nur länger auf den Augen liegen bleiben. Der Brei auf dem Auge ist so etwas wie eine Medizin, ein Medikament, ein Heilmethode, die man so ähnlich kannte. Jesus berührt ihn genau dort, wo der Schmerz sitzt.

Dann soll der Blinde zum Teich Siloah gehen und sich die Augen reinwachsen. Siloah heißt „der Gesandte“ übersetzt. Auch der Teich hat eine Symbolik. Der Blinde soll sich im Wasser des Gesandten reinigen. Dann würde er sehend werden. Der Blinde gehorcht. Er geht den Weg. Wir wissen nicht, ob er den Weg schon einmal alleine gegangen ist. Vielleicht war es ein ganz neuer Weg. Vielleicht war er sehr unsicher, bis er dort war. Aber er gehorcht. Er geht. Er vertraut dem Mann, der ihn berührt hat.

Manche Ausleger erkennen in der Waschung im Teich des Gesandten einen Hinweis auf die Taufe.

Der Blinde war bisher nur passiv. Er hat Jesus nicht gerufen. Er hat nicht um Heilung gebeten. Jesus sagt ihm auch als er geheilt ist nicht „Dein Glaube hat dir geholfen“. Der Mann kommt erst zum Glauben. Er lernt Jesus jetzt erst kennen und begreift langsam, wer Jesus ist. Einige Nachbarn fragen ihn, wodurch er plötzlich sehen kann. „Der Mann, der Jesus heißt, hat mir einen Brei auf die Augen gelegt!“ sagt er (V11). Das ganze Kapitel Johannes 9 geht so weiter.

Den Pharisäer gegenüber nennt er Jesus wenig später einen Propheten. (V17) „Käme der Mann, der Jesus heißt, nicht von Gott“ bekennt der Geheilte in einem Streitgespräch mit den Schriftgelehrten. Hätte er mich nicht heilen können. Am Ende des Kapitels nennt er Jesus den Menschensohn und den Herrn und fällt vor ihm nieder. (V36-38)

Der Blinde wird sehend und die meisten anderen bleiben blind. Blinde wird doppelt sehend, zweifach, physisch und geistlich, er sieht das erste Mal die Sonne, Menschen, Farben, und er erkennt Jesus. Die Nachbarn, die Pharisäer, auch die eigenen Eltern bleiben blind. Jesus hat gegen den Sabbat verstoßen, als er den Brei machte. Das reicht, um die ganze Sache zu beurteilen. Manchmal sehen Blinde einfach mehr. Und die, sich für sehend halten, bleiben blind.

Viele von uns kennen Samuel Koch. Schauspieler und Autor. Er ist 23 Jahre alt als er am 4. Dezember 2010 in der Sendung „Wetten dass“ verunglückt. Samuel Koch vom Hals abwärts querschnittsgelähmt. Er ist Christ. Wer ihn schon einmal reden gehört hat,  wird bestätigen, was er für eine starke Ausstrahlung hat. Ich habe ihn letztes Jahr auf der Gebetskonferenz in Augsburg erlebt.

Samuel Koch hat getrauert, geweint, gehadert. Aber befreiend war auch für ihn dann die Frage:  Wie kann Gott durch mein Schicksal geehrt werden? Wie kann Gott mich gebrauchen, so wie ich heute bin, mit meiner Geschichte und mit meinem Glauben? Ich glaube, dass Gott nicht selten seine Herrlichkeit, sein Licht am hellsten zeigt, wo wir schwach sind.

Drei Identifizierungsmöglichkeiten will ich zum Schluss nennen:

  1. Wir können uns mit dem Blinden identifizieren und Jesus bitten: Herr mache mich sehend!
  2. Wir können uns mit den Jüngern identifizieren und Jesus bitten: Herr, befreie mich von unnützen Fragen angesichts des Leids von Menschen!
  3. Wir können uns mit Jesus identifizieren und ihm sagen: Ich will mit dir die Taten dessen tun, der dich gesandt hat.
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